Wahrheit und Toleranz

Zu den herausragenden Eigenschaften, die einen modernen Weltbürger auszeichnen, gehört es, tolerant zu sein. Das betrifft vor allem die vielfältigen Bemühungen um die Einheit der Religionen, aber auch die Einigungsbemühungen zwischen verschiedenen, sich christlich nennenden Konfessionen. Immer stärker unter die Räder kommt dabei die Frage, wo Toleranz ihre Grenzen hat.

In den meisten Bereichen unseres Lebens würde die Forderung nach Toleranz den gesunden Menschenverstand kräftig strapazieren, weil die Fähigkeit zum präzisen Urteil - zur Trennung von Richtigem und Falschem, von Wahrheit und Lüge - lebenswichtig ist. Man stelle sich nur einen Arzt vor, der in seiner Diagnose einer schweren Krankheit "tolerant" ist und dem Patienten außerdem rät, er möge sich nach eigenem Gutdünken irgendeine Medizin besorgen oder irgendeinem Chirurgen anvertrauen, weil das allein eine Frage der persönlichen Überzeugung und Lebensweise sei. Das mag unsinnig klingen, aber es ist genau die Vorgehensweise, die sich in Bezug auf geistliche Krankheit immer deutlicher Bahn bricht. Besteht die zentrale geistliche Krankheit etwa nicht darin, dass die Sünde jeden einzelnen Menschen von Gott trennt und ewiges Verderben die Folge ist? Und nennt die Bibel etwa nicht ganz eindeutig, welche Medizin da infrage kommt? "Und es ist in keinem anderen das Heil; denn auch kein anderer Name unter dem Himmel ist den Menschen gegeben, in dem wir errettet werden müssen" (Apg. 4,12).
Wie können wir da tolerant sein und andere Religionen als gleichwertige Wege zu Gott akzeptieren? Was tun wir unseren ungläubigen Mitmenschen an, wenn wir in dieser Hinsicht nicht ganz entschieden, eben in-tolerant sind? Oder sind wir uns da selbst nicht mehr so ganz sicher? Für die Jünger Jesu war die Sache eindeutig: In dieser Angelegenheit gab es keinen Kompromiss. Aber was ist mit der Toleranz gegenüber all denen, die sich ebenfalls Christen nennen? Wenn sie Tote anbeten (Katholizismus) oder wenn ihr Jesus gar nicht auferstanden ist (liberale Theologie)?

Und wie verbreitet ist unter uns Bibelgläubigen das Evangelium vom "toleranten Gott", den es hauptsächlich unseres Nutzens wegen gibt? Sagen wir den Menschen noch, dass sie als Sünder vor einem heiligen Gott ihre Schuld bekennen müssen? Oder rufen wir oft dazu auf, "eine Entscheidung für Jesus Christus zu treffen", weil dann alles besser läuft? Daran zu glauben, dass Jesus für unsere Sünden gestorben ist, bedeutet: anerkennen, dass wir Sünder sind, dass Gottes Strafe für die Sünden gerecht ist und dass Jesus diese Strafe für uns auf sich genommen hat. Wie können Christen an diesem Punkt anders als absolut intolerant sein? In den angeblich weniger bedeutsamen Fragen zeigt sich schnell, dass der Aufruf zu Toleranz keineswegs immer eine wohlfeile Ermahnung, sondern oft eine Waffe ist.
Versuchen Sie doch einmal, in denjenigen Streitfragen, in denen am lautesten nach Toleranz gerufen wird, einfach ihre (christliche) Meinung zu sagen: Homosexualität oder Evolutionstheorie beispielsweise. In aller Regel zeigt sich augenblicklich, dass Toleranz hier eine ganz einseitig verteilte Forderung ist. Tolerant kann man nur von einem festen, klaren Standpunkt aus sein. Ohne einen solchen Standpunkt ist man nicht tolerant, sondern unsicher. Das wahre Problem in der Toleranzdebatte scheint zu sein, das unsere Standpunkte immer stärker verwässern. Warum ist uns das Etikett "Fundamentalist" so unangenehm? Weil wir uns nicht in der Lage sehen, unser Fundament, unsere Grundlagen, klar und eindeutig zu benennen, dafür einzustehen und unsere Kritiker aufzufordern, dazu eindeutig Stellung zu nehmen? Wir sollten zumindest in den eigenen Reihen darauf achten, warum und in welcher Frage Toleranz eingefordert wird: Kann man in einem bestimmten Punkt, ausgehend von einem klar definierten Standpunkt, großzügig sein, oder zeigt sich hier nur Unsicherheit, weil der eigene Standpunkt verloren gegangen ist?

(Quelle: Dave Hunt / Topic)